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Wir sollten die letzten Familienmitglieder gewesen sein, die sie sahen, obwohl sie uns natürlich nicht wahrgenommen hatte.
Das Krankenhaus rief am nächsten Morgen an, um mitzuteilen, dass sie in der Nacht gestorben war. Mr. Radley schien die Nachricht am meisten zu treffen: Den Rest des Tages saß er im Sessel, starrte aus dem Wohnzimmerfenster und kaute auf seinen Lippen, in seine eigenen Gedanken versunken. Als ich ihm mittags ein Sandwich brachte, sah er mich an wie eine völlig Fremde und sagte: »Danke, Birdie, stell es auf den Tisch«, wo es unberührt stehen blieb, bis ich es am Abend wegräumte. Das überraschte mich. Ich hatte ihn nie für einen Mann gehalten, der, wenn es um Menschen - richtige Menschen - ging, zu tieferen Gefühlen fähig war. Wegen Fremder, die schon lange tot waren, konnte er sich in Sentimentalitäten hineinsteigern zum Beispiel am Soldatendenkmal in Vimy -, aber er neigte dazu, auf der Straße über Bettler hinwegzusteigen.
Währenddessen befand sich Lexi im organisatorischen Overdrive: Krankenhaus, Standesamt, Leichenbestatter, Anwalt, Krematorium, alle kamen in den Genuss ihrer eigenartigen Mischung aus Tyrannei und Charme.
Die Beerdigung sollte schon in wenigen Tagen stattfinden. Es bestand keine Veranlassung, sie zu verschieben: Es gab keine Freunde oder Verwandte, die von weither anreisen mussten, und das Krematorium war sehr entgegenkommend. Anscheinend gab es für den Tod bestimmte Jahreszeiten, und im August ging das Geschäft schlecht.
»Tja, die Leute sind alle im Urlaub«, lautete die Interpretation meiner Mutter dieser statistischen Besonderheit.
Meine Granny zeigte großes Interesse an den Details von Auntie Mims Tod. »Ich bin die Nächste«, sagte sie, »Gott sei Dank.« Schon so lange ich sie kannte, hatte sie selbstzufrieden ihr unmittelbar bevorstehendes Ableben vorausgesagt. Sie war erst achtundsiebzig, aber die Blindheit hatte ihre Aktivitäten grausam beschränkt, und sie war vom Leben so gelangweilt wie eine Neunzigjährige. »Hat sie irgendwas hinterlassen?«
Ich sagte, das glaubte ich nicht. Erbschaften waren eine weitere von Grannys langjährigen Obsessionen. Sie benutzte die Notwendigkeit, für meine Mutter ein Erbe zusammenzukratzen, als Entschuldigung für ihren Geiz, der immer schlimmer und exzentrischer wurde. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, die dünnen Plastiktüten, in die der Fleischer das Fleisch wickelte, aufzuheben und auszuwaschen. Sie hatte in der Küche eine Schnur gespannt, an der sie sie trocknete, und dort hingen sie dann wie feuchte kleine Geister. Wenn sie trocken waren, landeten sie in einer Schublade, bis der Tag dämmerte, an dem sich eine Verwendung für sie finden würde. Selbst als ihr Augenlicht nachgelassen hatte, bestand sie darauf, Laufmaschen in Strumpfhosen zu stopfen. Meine Mutter musste sie mit einer eingefädelten Nadel ausstatten, und dann saß sie am Küchentisch, eine Pampelmuse in den Zeh eines löchrigen Strumpfes gequetscht, und flickte; sie fluchte und schrie, wenn sie sich stach, freute sich jedoch innerlich, vierzig Pence zu sparen.
Mit irgendeiner unergründlichen Methode hatte sie ihren Kostenanteil an dem Essen, das Mutter ihr jede Woche servierte, auf 2,67 Pfund berechnet. Eine so präzise Summe konnte man nicht anfechten. Jeden Sonntag, wenn Mutter den Braten auftischte, stapfte sie in die Küche und zählte Münze für Münze genau diesen Betrag aus ihrem Geldbeutel auf den Tisch, während Mutter seufzte, missbilligende Töne von sich gab und die Kartoffeln zerstampfte.
Ich hatte nicht Recht gehabt, was Auntie Mim betraf. Sie hatte ihren Schmuck - nichts davon besonders wertvoll Frances vermacht, Clarissa 1000 Pfund und den Rest, der ungefähr 90.000 Pfund betragen würde, Lexi.
»Wusstest du, dass sie irgendwelche Ersparnisse hatte?«, fragte ich Frances auf dem Weg zum Krematorium. Rad fuhr uns; Nicky und Frances saßen hinten. Die Erwachsenen - Mr. und Mrs. Radley, Onkel Bill und Tante Daphne - fuhren mit dem Renault. Clarissa, ihre Mutter Cecile und Lawrence kamen mit getrennten Taxis. Limousinen gab es nicht.
»Sie hat ihr Cottage verkauft, bevor sie zu uns gezogen ist, deshalb wusste ich wohl, dass sie etwas haben musste. Aber ich habe nie richtig drüber nachgedacht. Sie sah immer so arm aus.«
»Reich auszusehen kostet viel Geld«, klärte Nicky uns auf. Die Atmosphäre im Auto war fröhlich: Es sei lächerlich, den Tod einer Dreiundneunzigjährigen zu betrauern, sagte Rad. Wir sollten froh sein, dass sie so lange gelebt hatte. Das war die beste Art Beerdigung, stimmte Nicky zu, als wäre er ein Kenner: Eine, auf der man jemanden ganz groß verabschieden konnte, ohne allzu traurig zu sein. Frances beugte sich zwischen die Vordersitze und stellte das Radio an. Wir waren alle unter einundzwanzig. Wenn unsere Zeit kam, hätte jemand ein Heilmittel entdeckt.
In der Kapelle schafften wir elf es, die ersten zwei Reihen zu besetzen, indem wir uns ein bisschen breit machten. Lexi nahm dank ihrer Aufmachung sowieso so viel Platz ein wie zwei normale Menschen - schwarze Jacke mit riesigen Schulterpolstern, Schoßjacke, enger schwarzer Rock und ein breitkrempiger Hut, übersät von zitternden Straußenfedern. Frances hatte davon abgebracht werden müssen, die vererbten Perlen zu tragen. Sie zwang Nicky, sich neben Cecile zu setzen, die einen Fuchspelz trug. »Ich will dieses tote Ding nicht berühren«, sagte sie laut.
Der Gottesdienst war nach einer Viertelstunde vorbei. Lexi hatte den Kaplan angewiesen, es nicht zu lang zu machen. »Sie war dreiundneunzig, also lassen Sie es uns um Himmels willen kurz und vergnügt halten.« Musik gab es keine - wir waren nicht genug Leute für eine Hymne, und die Radleys waren sowieso keine begeisterten Sänger. Der Kaplan raste in flottem Tempo durch die Begräbnisliturgie. Es ist nicht leicht, mit optimistischer Stimme »Wir kommen ohne irdische Güter zur Welt, und wir nehmen nichts mit uns, wenn wir gehen« zu sagen, aber er schaffte es. Er hielt die Rede, für die Lexi ihn mit den notwendigen biografischen Details versorgt hatte, mit solcher Überzeugungskraft, dass ich am Ende fast bereit war zu glauben, er würde Auntie Mim genauso vermissen wie wir.
Vor der Kapelle waren die Blumengrüße zu unserer Inspektion aufs Gras gelegt worden. Die Direktorin des Beerdigungsinstituts hatte gesagt, wir dürften sie mit nach Hause nehmen, wenn wir wollten. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich keinen Kranz bestellt«, beschwerte sich Cecile. »Dann hätte ich was ausgesucht, das noch als Tischdekoration hätte dienen können.«
Clarissa bewunderte Lexis Aufmachung. »Mir gefällt die Schoßjacke. Sehr neckisch.«
»Ach wirklich?« Lexi strich sie über den Hüften glatt. »Ich weiß nicht, ob ich das bin. Ich werde sie wahrscheinlich umtauschen - es sei denn, in den nächsten zwei Tagen stirbt noch jemand.« Und sie stieß ein kehliges Lachen aus.
Es war das einzige Mal, dass ich je hörte, wie sie versuchte, einen Witz zu machen.
Zu Hause gab es etwas zu trinken und einen kleinen Imbiss. Cecile durfte ein Glas Sherry trinken, vielleicht auf Grund ihres Alters. Alle anderen bekamen Orangensaft. Lexi hatte ein paar fertige Cocktailsnacks gekauft, die auf Teller gekippt und herumgereicht wurden.
Mir fiel auf, dass das Foto von Auntie Mims »einziger großen Liebe« jetzt bei den anderen Familienfotos auf dem Sekretär stand. Ich beschloss, Lexi auf die Probe zu stellen.
»Wer ist das?«, fragte ich, als sie mit kleinen Käsestangen an mir vorbeikam.
»Marigold Bray«, sagte sie, ohne zu zögern. »Sie war Auntie Mims Freundin. Hübsch, nicht?« Und schon war sie weiter. Cecile, eine passionierte Klatschtante, hatte diesen Wortwechsel mitbekommen und war schnell auf den Platz gerückt, den Lexi geräumt hatte.
»Sie war lesbisch, als sie jünger war«, sagte Cecile, als wäre das ein Hobby, aus dem man herauswuchs. »Sie hatte eine Art Beziehung mit einer anderen Lehrerin an der Schule, an der sie arbeitete. Sie war damals Mitte zwanzig. Wusstest du, dass sie unterrichtet hat? Ja, Kochen. Wirklich kaum zu glauben, wenn man drüber nachdenkt.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ihre Eltern haben es herausgefunden und sie in eine Anstalt einweisen lassen. Sie war sechs Monate dort, und als sie herauskam, war sie völlig geheilt. Na ja, sie hat nie geheiratet. Und von der Zeit an aß sie nichts mehr außer Kartoffeln und Rosenkohl. Ist das nicht seltsam?«
»Sie war nicht ›geheilt‹, sie war völlig gebrochen.« Lexi war wieder ins Zimmer gekommen und hatte den letzten Teil unseres Gesprächs mit angehört. »Mir graut, wenn ich darüber nachdenke, was sie ihr dort angetan haben. Sie hat den Rest ihres Lebens nicht mehr gearbeitet.« Während dieses Wortwechsels war es im Zimmer still geworden.
Alle hörten zu.
»Wovon hat sie denn in den folgenden siebzig Jahren gelebt?«, fragte ich.
»Sie ist zurück zu ihren Eltern gegangen, und die haben für sie gesorgt, bis sie zu alt wurden, und dann hat sie sich um sie gekümmert. Ihre ältere Schwester - Mums Mutter war schon verheiratet und nach Belgien gezogen, und Mim war mit ungefähr fünfundzwanzig zur Rolle der unverheirateten Tante verdammt. Sie bekamen nie Besuch und gingen nie irgendwohin, deshalb hatte sie auch keine Gelegenheit, jemanden kennen zu lernen.«
»Warum hat sie nur Rosenkohl und Kartoffeln gegessen?«, fragte Frances, die sich inzwischen zu uns gesellt , hatte. »Haben sie ihr in der Klapsmühle nur das gegeben?«
Lexi gab missbilligende Geräusche von sich. »Ich weiß es nicht. Bevor sie eingesperrt wurde, war sie Lehrerin und eine wunderbare Köchin. Ich glaube, es war ihre Art, ihren Eltern zu zeigen, dass sie ihr Schaden zugefügt hatten.«
»Wieso haben sie und Marigold ihnen nicht gesagt, sie sollen sich verpissen?«, sagte Frances.
»In diesen barbarischen Zeiten respektierten Kinder ihre Eltern noch«, sagte Mr. Radley.
»Sie war keine Rebellin«, sagte Lexi. »Und ihre Karriere als Lehrerin war zu Ende - es war damals für Frauen viel schwerer, unabhängig zu sein.«
»Ich wünschte, ich hätte das alles gewusst, als sie noch am Leben war«, sagte Frances entrüstet. »Dann hätte ich mir mehr Mühe gegeben, sie mal auszuführen, damit sie ein bisschen Spaß gehabt hätte.«
»Du meinst, in den Tattoo-Salon oder zu Miss Selfridge, um Make-up auszuprobieren?«, sagte Rad.
Frances ignorierte ihn. »Warum ist sie nicht ausgegangen und hat was unternommen, als ihre Eltern tot waren?«
»Da war sie schon um die fünfzig.«
»Das ist nur so alt wie du, und du bist auch nicht zu alt, um auszugehen und dich zu amüsieren.«
»Wahrscheinlich hat sie es einfach nicht mehr hingekriegt. Selbstverleugnung kann zur Gewohnheit werden wie alles andere auch.«
»Meine Frau ist Expertin in Selbstverleugnung, wie ihr alle wisst«, sagte Mr. Radley.
»Wenn ich es mir jetzt so überlege«, fiel Lexi ihm ins Wort, »hat sie mir einmal erzählt, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter versucht hat, Marigold ausfindig zu machen, und schließlich rausgefunden hat, dass sie nach Kenia ausgewandert ist. Das war dreißig Jahre nachdem sie den Kontakt verloren hatten, und Auntie hatte die Sache mit ihr immer noch nicht überwunden.«
»Tja, ich hab ja schon immer gesagt, Liebe hält länger, wenn sie unglücklich ist«, sagte Clarissa.
Ich sah automatisch zu Rad hinüber und kam in den Genuss eines seiner süffisanten Blicke. Neben ihm, von allen anderen unbemerkt, starrte Lawrence Lexi an.